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„Die Traumdeutung“ von Sigmund Freud

„Die Traumdeutung“ von Sigmund Freud

Geht es um Träume und Literatur, kommt man im deutschen Sprachraum nicht um „Die Traumdeutung“ von Sigmund Freud herum. Anlässlich Freuds 82. Todestag habe ich beschlossen, das Buch zu lesen und euch hier eine Rezension zu liefern.

Doch zuerst Hintergrundwissen.

Sigmund Freud

Sigmund Freud (* 6. Mai 1856; † 23. September 1939) war ein österreichischer Arzt, Neurophysiologe, Tiefenpsychologe, Kulturtheoretiker und Religionskritiker.

Er ist der Begründer der Psychoanalyse und bekannt für das Strukturmodell der Psyche mit den drei Instanzen Es, Ich und Über-Ich. Seine Theorien und therapeutischen Methoden werden bis heute angewandt, diskutiert und kritisiert.

Die Traumdeutung

1899 erschien Freuds Die Traumdeutung. Es gilt als grundlegendes Werk der Psychoanalyse. Für Freud ist der Sinn eines jeden Traums die Wunscherfüllung. In unseren Träumen manifestierten sich demnach verdrängte aktuelle sowie aus der Kindheit stammende Wünsche, die sich häufig in verschlüsselter Form zeigen, weshalb die Traumdeutung auch „die Via regia [lat.: der Königsweg] zur Kenntnis des Unbewussten im Seelenleben“ sei.

Die Traumdeutung gehört zu den meistgelesenen und einflussreichsten Büchern des 20. Jahrhunderts.

Besprechung

Formalia

Ich habe die Traumdeutung in der ungekürzten Fassung aus dem Jahr 1985 gelesen. Das Buch umfasst 518 Seiten, wobei die letzten 13 Seiten das Literaturverzeichnis ausmachen. Der Inhalt gliedert sich in die Kapitel:

  • Die wissenschaftliche Literatur der Traumprobleme (bis 1900)
  • Die Methode der Traumdeutung
  • Der Traum ist eine Wunscherfüllung
  • Die Traumentstellung
  • Das Traummaterial und die Traumquellen
  • Die Traumarbeit
  • Zur Psychologie der Traumvorgänge
  • Literaturverzeichnis

Freuds Widmung „Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo“ ist ein Zitat aus Vergils Aeneis und bedeutet übersetzt „Wenn ich die himmlischen Götter nicht erweichen kann, so werde ich die Hölle in Bewegung setzen“.

Das Buch bedient sich der Methodik wissenschaftlichen Arbeitens, d.h. es enthält Titelblatt, Vorwort, Inhaltsverzeichnis, Textteil mit Problemstellung und Untersuchungsmethode, Hauptteil, Zusammenfassung sowie Anhang. Freud zitiert korrekt in Fußnoten (sogar in Originalsprache).

Und bei Neuauflagen unterzieht Freud  sein Werk stets einer Revision.

Thesen

Freud kritisiert, dass das wissenschaftliche Verständnis des Traumes trotz mehrtausendjähriger Bemühungen zu wenig weit gediehen sei. Im Altertum sei die These verbreitet gewesen, der Traum sei eine Sendung der Götter um die Handlungen der Menschen zu lenken. Später wurde angenommen, die psychische Tätigkeit des Wachens setze sich im Traum fort. Jüngst sei der Traum auf einen somatischen Vorgang reduziert worden. (Man denke an die Redewendung „Träume kommen vom Magen.“)

Dabei wurden vier körperliche, sogenannte „Traumreize“ ausgemacht:

  1. Äußere, objektive Sinneserregung
  2. Innere, subjektive Sinneserregung
  3. Innerer, organischer Leibreiz
  4. Rein psychische Reizquellen

Der vierte Punkt sei bislang unterschätzt worden. Hier setzt Freud an. Er versucht eine Beziehung zwischen Träumen und Neurosen herzustellen: „Die Psychopathologie des Traumes [wird] die Ärzte beschäftigen.“ Dabei verweist er auf die Gemeinsamkeiten von Träumen und Geisteskrankheiten. Zum Beispiel Fokussierung auf visuelle oder akustische Reize, präsente Erinnerungen, fehlendes Zeitempfinden.

Laut eigenen Angaben betreibt Freud seit 1895 erste Traumforschungen an Hand von Patientenberichten, nutzt jedoch auch eigene Träume zur Beweisführung. Er will hin zum Seelenleben des Einzelnen.

Was die historische Traumdeutung angeht, gab es zwei nennenswerte Ansätze:

  1. Symbolisch (= ersetzt Trauminhalt durch verständlichen, analogen Inhalt)
  2. Chiffriermethode (= sieht Traum als Geheimschrift, in der Zeichen  „übersetzt“ werden, z.B. durch Traumlexika)

Freuds Traumdeutung findet hermeneutisch statt. Sie sieht den Traum als etwas Zusammengefasstes, das erschlossen werden kann. Nach seiner Methodik wird ein Traum notiert und dann nach einzelnen Aspekten analysiert. Hieraus wird der Sinn des Traumes subsumiert.

Aber wie kommt nun ein Traum zustande? Dazu stellt Freud drei Theorien auf:

  1. Vortag (= Traumerinnerung kann aus beliebiger Zeit stammen, aber Gedanke vom Vortag an eines jener Ereignisse „triggert“ Traum)
  2. Einheitsverschmelzung (= mehrere, voneinander unabhängige Ereignisse werden zu einer gemeinsamen Geschichte vereint)
  3. Reizvermischung (= äußere Reize, wie Schmerzen, können sich mit Trauminhalt vermengen)

An dieser Stelle des Buches nutzt Freud Abbildungen, um die Vorgänge des Traums in Zusammenhang mit dem Unbewussten zu stellen. Er entwickelt seine be­rühmt-be­rüch­tigte Sexualtheorie. Demnach streben inakzeptable, von der Zensur des psychischen Apparats verdrängte Wünsche, die häufig einen sexuellen Hintergrund haben und mit Kindheitserlebnissen in Verbindung stehen, nach Erfüllung. Da Erregung den Schlaf gefährden würde, werden die Wünsche durch „Verdichtung“ und „Verschiebung“ verschleiert. Er nennt den Vorgang „Regression“.

Fazit

Der Titel ist irreführend. Freuds Buch behandelt Psychosen, keine Träume. Zwar werden zahlreiche Träume als Beispiele angeführt und „analysiert“, allerdings liegt der Schwerpunkt in der Auflösung schwerer Symptome bei Freuds Patienten. Das ist mein erster Kritikpunkt an diesem Buch. Freud schöpft ausschließlich aus seiner klinischen Praxiserfahrung. Er selbst verteidigt seine Traumtheorie zwar als allgemeingültig, dies wage ich jedoch zu bezweifeln. Ich vermute, hier ist selektive Aufmerksamkeit am Werk. Ein Irrenarzt, der die Welt voller Irren sieht.

Fragwürdig finde ich auch Freuds Reduzierung von Träumen auf verdrängte, negativ bewertete Wünsche und den plakativen Charakter der, oftmals in der Kindheit angelegten, sexuellen Bedürfnisse. Ich gebe euch ein Beispiel: Der Traum einer Frau, in Richtung Italien unterwegs zu sein, wurde bei Freud kurzer Hand zu „gen Italien“ → Genitalien → Sex. Klingt wie ein Kalauer.

Ich teile Freuds Schlüsse nicht, nichtsdestotrotz hat mich dessen Akribie beeindruckt. Man spürt beim Lesen den wissenschaftlichen Anspruch seiner Traumtheorie. Vielleicht befürchtete Freud ja kritische Stimmen aus der Ärzteschaft und hat aus diesem Grund Vergils kämpferische Widmung gewählt? Wer weiß.

Freud hat Innovationsgeist bewiesen, indem er der verstaubten Traumthematik Tiefgang verlieh. Überhaupt, dass er Träume als „seelischen Akt“ erkannte.

Traumdeutung vs. Active Dreaming

Stellt man seiner Traumdeutung das Active Dreaming von heute gegenüber, ergeben sich ein paar Gemeinsamkeiten. So beginnen beide mit bewusster Zuwendung. Freud nennt es „[das] Nachdenken  fallen … und die … Vorstellungen auftauchen [lassen]„, ich würde es Traumreise nennen. In beiden können Erinnerungen auftauchen, die mit dem Traum in Verbindung stehen.

Freud legt Wert auf die Realitätsprüfung eines Traums, genau wie ich es beim Lightning Dreamwork praktiziere.

Außerdem bemerkt er, dass das Setzen einer Intention vor dem Schlafengehen sowie „Interesse am Traum“ zu gesteigerter Traumerinnerung führt. Eine Herangehensweise, die auch beim Active Dreaming erfolgreiche Anwendung findet.

Das letzte Wort

Würde ich Freuds Traumdeutung weiterempfehlen? Jein.

Das Buch umfasst immerhin 500+ Seiten (Fun Fact: Das sind knapp 200 mehr als Stephen Kings Roman „Carrie“ hat!). Es liest sich zäh, zumal der Sprachstil des 19. Jahrhunderts keine Hilfe ist. Das Ende ist übertrieben mathematisch (Freud verwendet Formeln zur Darstellung seiner Konzeption der Psyche – ja, wirklich!).

Allerdings bieten die ersten Kapitel eine kompakte und gut recherchierte Übersicht an Traumliteratur. Es gibt ausführliche Traumbeispiele. Das könnte für den einen oder die andere interessant sein.

Kurzum: Nur für Freunde der Psychologie oder SEHR Interessierte geeignet.

Bibliografische Angaben

Die Traumdeutung / Sigmund Freud. – Ungekürzte Ausg., 207. – 213. Tsd. – Frankfurt am Main : Fischer Taschenbuch-Verl., 1985. – 518 S. – ISBN 3-596-26344-1